Bildungssprachliche Kompetenzen als Voraussetzung für eine erfolgreiche Laufbahn

Naxhi Selimi

Seit die Schweizer Jugendlichen im ersten PISA-Test im Jahr 2000 im internationalen Vergleich sehr bescheiden abschnitten befasse ich mich intensiv mit der Bildungssprache im schulischen Kontext. Ich wollte die Zusammenhänge und die Gründe für diese bescheidenen Ergebnisse besser verstehen, zumal die Bildung in der Schweiz zu den wichtigsten Ressourcen zählt. Ich konnte damals nicht ganz nachvollziehen, weshalb viele unserer heranwachsenden Jugendlichen, insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund, zu denen die Albaner:innen zählen, Mühe mit dem Verstehen gelesener Texte in einer Gesellschaft haben, in der viel gelesen wird und die sehr medienorientiert ist. Durch die Auseinandersetzung mit solchen Fragen realisierte ich, dass Sprachkompetenzen in der Alltagssprache unzureichend sind, um in Schule und Beruf erfolgreich zu sein. Es ist erwiesen, dass Schülerinnen und Schülern der Volksschule, die zum Beispiel eine anspruchsvolle Abteilung auf der Sekundarstufe I oder das Gymnasium besuchen, Texte besser verstehen und auch bessere Texte schreiben als ihre Gleichaltrigen, die eine Sek C-Klasse besuchen. Deshalb ermutige ich unsere albanischen Schulkinder und ihre Eltern, nichts dem Zufall zu überlassen, sondern von Anfang an in die Bildung zu investieren.

Sprachpraxis der albanischen Community im deutschsprachigen Raum
Inzwischen leben die meisten Albaner:innen mindestens in der dritten Generation im deutschsprachigen Raum und praktizieren die Sprache von Person zu Person und von Generation zu Generation vielfältig und verschieden, wie unsere Studien belegen. Dabei spielen unter anderem individuelle, soziale, wirtschaftliche, kulturelle oder schulische Faktoren eine wichtige Rolle. Erwartungsgemäss sind die Datenwerte der im Herkunftsland sprachlich sozialisierten Personen der ersten Generation höher als diejenigen der zweiten und dritten Generation, die einen Teil oder die gesamte Schule in der Schweiz oder in Deutschland besucht haben und Albanisch als Herkunftssprache nur privat und in der Familie verwenden. Sprechende der zweiten und dritten Generation beherrschen naheliegenderweise das Deutsche schriftlich und mündlich besser als das Albanische. Die Personen der ersten Generation hingegen beherrschen das Albanische mündlich und schriftlich gut, im Deutschen hingegen sind sie eigenen Aussagen zufolge besser im Mündlichen als im Schriftlichen. Die Befragten der zweiten und dritten Generation können im Albanischen besser mündlich als schriftlich kommunizieren. Innerhalb einer Generation gibt es jeweils solche, die sich im Albanischen mündlich kompetent ausdrücken und solche, die einen geringen Wortschatz haben und deshalb viele deutsche Wörter verwenden, wenn sie Albanisch sprechen. All das ist nachvollziehbar und völlig normal. Ein Punkt ist bei allen drei untersuchten Generationen ähnlich: Alle sind dem Albanischen und dem Deutschen gegenüber positiv eingestellt und erachten beide Sprachen als prägend für ihren Alltag. Ich möchte nun ein wenig kritisch sein und festhalten, dass wir Sprechende der zweiten und dritten Generation befragten, die mehrheitlich aus sprach- und bildungsbewussten Familien stammen, den ergänzenden Albanischunterricht besuchten, den Kontakt mit den Verwandten im Herkunftsland ihrer Eltern pflegten, sich als sprachinteressiert und sprachkompetent bezeichneten und aus diesem Grund sich bereit erklärten, Teil unseres Projektes zu sein. Persönlich vermute ich, dass die Zahl jener, die kaum Albanisch können, relativ hoch sein könnte. Meiner vermuteten Dunkelziffer liegt die Tatsache zugrunde, dass mir viele Eltern am Telefon erklärten, dass ihre Kinder in der dritten Generation ungenügend Albanisch können und sich deshalb in der Studie nicht beteiligen können. Dies müsste aber empirisch genauer untersucht werden.

Sprachliche Einflussfaktoren
Der Sprachlernprozess wird beeinflusst von all den bereits genannten und weiteren Faktoren wie etwa Alter, Geschlecht, Spracheinstellung, Strukturnähe zur Zielsprache, Sprachprestige, Sprachvorlieben, demografische Nähe zur neuen Sprache, die gelernt wird, soziale Interaktion, Sprachmobilität und vieles mehr. Aus der Kontakt- und Soziolinguistik wissen wir, dass zum Beispiel die Spracheinstellung im Migrationskontext einen Generationenunterschied aufweisen kann, weil die Personen der zweiten und dritten Generation sprachlich anders sozialisiert wurden als ihre Eltern und Grosseltern, die als Erwachsene in die Schweiz kamen. Demnach können die unterschiedlichen Sprachkonzepte, aber auch die kulturelle Prägung den individuellen Sprachlernprozess positiv oder negativ beeinflussen. In diesem Zusammenhang kann der Einfluss kognitiver Art sein, indem zum Beispiel jene Sprachen, die angesehene Berufe begünstigen (z.B. Deutsch, Englisch), höhergestellt werden. Der Einfluss kann aber auch affektiv sein, indem man beispielsweise eine Sprachvariante wie etwa Schweizerdeutsch oder Dialekt des Albanischen lieber als Hochdeutsch oder Standardalbanisch hat und bevorzugt verwendet. Er kann aber auch habituell sein, indem die Übereinstimmung des Sprachverhaltens mit dem kognitiven und affektiven Urteilen motiviert sind. All diese und weitere Faktoren stehen in Wechselbeziehung zueinander. Die Wertung und die Emotion hängen dabei besonders stark zusammen. Ohne in die Details zu gehen, verläuft der Sprachlernprozess in verschiedenen Phasen und verlangt eine Umgebung, die das Sprachlernen unterstützt.

Rolle der Lehrkräfte für die Laufbahn der Kinder und Jugendlichen
Die Rolle der Lehr- und Fachkräfte in der Schule ist äusserst wichtig, weil sie mit ihrer sprachlichen Vorbildfunktion, Persönlichkeit und Offenheit gegenüber der Sprachenvielfalt den Sprachlernprozess Ihrer Schülerinnen und Schüler positiv beeinflussen können. Sie können mit ihrer wertschätzenden Haltung und durch die punktuelle Integration der Sprachen Ihrer Lernenden (in diesem Fall Albanisch) in den Unterricht die Sprachenvielfalt als Potential nutzen. Jeder sprachbewusste Unterricht bietet meines Erachtens viele Möglichkeiten, die Sprachenvielfalt der Schülerinnen und Schüler als kostbaren Gut zu betrachten und mithilfe von Sprachspielen, literarischen Texten aus anderen Kulturen oder Begrüssungsformen zu thematisieren. Ich denke dabei an pragmatische Lösungsvorschläge, die vielversprechend sind und die bestehenden Strukturen des Regelunterrichts nicht verändern müssen. Die Rolle der Lehrkräfte ist generell sehr bedeutsam für die Laufbahn einer Schülerin oder eines Schülers, weil sie als bildungssprachliche Expertinnen und Experten massgeblich dazu beitragen können, dass ihre Schülerinnen und Schüler ihr Wissen und Können in allen Lernfeldern auf- und ausbauen. So lernen die Schülerinnen und Schüler allgemein- und fachunterrichtlich wichtige Inhaltsbedeutungen, Methoden oder soziale Lernformen und werden bereits in der Grundschule zu bildungssprachbewussten und fachkompetenten Individuen.

Unterschied zwischen der Bildungssprache und der Schulsprache
Die Bildungssprache wird begrifflich von der Schulsprache unterschieden, weil im Rahmen der Schulsprache die Sprache und die damit verbundenten Spracherwartungen primär schulisch und didaktisch hergestellt sind. Hingegen die Bildungssprache geht über das rein Sprachliche hinaus und ist zum einen an Inhalte und Aktivitäten gebunden, die in den jeweiligen Lernfeldern einzelner Schulstufen angesiedelt sind. Zum anderen ist sie direkt mit der fortschreitenden Sprachbiographie einer Schülerin oder eines Schülers verknüpft. Die Bildungssprache ist ein mehrdimensionales Bündel und umfasst mehrere zentrale Aspekte sprachlicher, inhaltlicher und überfachlicher (insbesondere sozialer) Fähigkeiten. Es steht fest, dass Kinder und Jugendliche mit guten bildungssprachlichen Kompetenzen in der Lage sind, Sprach-, Sach- und Fachinhalte inhaltlich zu erschliessen und inhaltliche Zusammenhänge kompetent zu erklären. Im Sprachbereich können sie mit Metaphern und anderen Sprachmerkmalen souverän umgehen.

Zusammenhang zwischen Bildungssprache und Migrationshintergrund
Diverse Studien deuten darauf hin, dass manche Jugendliche mit Migrationshintergrund über solide alltagssprachliche Kompetenzen verfügen, jedoch Mühe haben, z.B. Sach- und Fachtexte zu verstehen. Als ich in der Primarschule unterrichtete, erlebte ich neueingereiste Schülerinnen und Schüler, die zwar gewisse Schulinhalte sprachlich nicht gut verstanden, kognitiv jedoch mathematische Zusammenhänge sofort durchschaut haben. Auf der anderen Seite hatte ich Schülerinnen und Schüler, die in der Schweiz geboren wurden und die Alltagssprache beherrschten, jedoch Mühe hatten, gewisse Inhalte zu verstehen oder sich sprachlich kompetent auszudrücken, wenn sie einen Inhalt erklären sollten. Demnach denke ich nicht, dass es zielführend ist, die Bildungssprache zu stark mit der Migration zu konnotieren.

Bildungssprache und Berufsperspektiven
Die Bildungssprache wird in der Schullandschaft immer wichtiger wird und zukünftig noch bewusster als bisher auf allen Schulstufen und Schulfächern thematisiert wird. Ich sehe noch viel Entwicklungspotential bei den albanischen Jugendlichen. Wir können heute feststellen, dass die sogenannten überfachlichen Kompetenzen, die mit den bildungssprachlichen Kompetenzen zusammenhängen, in der Schule und im Berufsleben immer wichtiger werden. Zeitgleich werden die Inhalte immer komplexer und erfordern mehrdimensionale Kompetenzen und Fähigkeiten, also Wissen und Können. Dabei spielen die bildungssprachlichen Kompetenzen eine zentrale Rolle. Aufgrund der empirischen Befunde bezüglich der Bedeutung der Bildungssprache für den Schul- und Berufserfolg und meiner langjährigen Auseinandersetzung mit dieser Thematik sehe ich zweifellos einen direkten Zusammenhang zwischen dem Berufserfolg und den bildungssprachlichen Kompetenzen einer Person. Je bildungssprachbewusster wir sind, desto erfolgreicher sind wir im Beruf und in allen anderen Lebensbereichen.

Fazit
Ich möchte alle albanischen Kinder und Jugendlichen ausdrücklich ermutigen, sich der Bedeutung der Bildungssprache im Sprach- und Fachunterricht und später im Beruf bewusst zu sein und nichts dem Zufall zu überlassen, sondern bewusst ihre bildungssprachlichen Fähigkeiten zu vertiefen. Alle Erwachsenen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, möchte ich ebenfalls ermutigen, ihre bildungssprachliche Vorbildfunktion wahrzunehmen und die Kinder und Jugendlichen bewusst zu unterstützen, damit diese eine erfolgreiche Laufbahn haben und später als erfolgreiche und bildungssprachbewusste Erwachsene den Alltag der Gesellschaft mitgestalten. Davon profitieren nicht nur sie selbst und die hiesige Gesellschaft, sondern auch die ganze albanische Gesellschaft.

Prof. Dr. Naxhi Selimi, Leiter Fachdidaktik Deutsch und Deutsch als Zweitsprache, Pädagogische Hochschule Schwyz